Ein unerwarteter Fund: “Le Pêcheur Catalan” WoO II.2, Nr. 9 von Louise Farrenc

Christin Heitmann

Friday, September 9, 2022

Ein Gastbeitrag von Christin Heitmann (Autorin des “Louise Farrenc. Thematisch-bibliographisches Werkverzeichnis” und Mitherausgeberin der Farrenc-Edition im Noetzel-Verlag), Beethoven-Haus Bonn:

Dass nach Abschluss von Forschungen, z.B. für ein Werkverzeichnis, später noch weitere Quellen auftauchen, ist ein bekanntes Phänomen. Im Falle der französischen Komponistin Louise Farrenc (1804–1875) hielt ich es allerdings für eher unwahrscheinlich, nach Abschluss der Farrenc-Edition (2003) und des Werkverzeichnisses (2005) noch unbekannte Textzeugen ihrer Werke zu finden, gerade weil die Überlieferungssituation ohnehin recht überschaubar ist und sich – jedenfalls im Hinblick auf ihre Autographe – im Wesentlichen auf das Département de la Musique der Bibliothèque nationale de France in Paris konzentriert. – Louise Farrencs künstlerischer Nachlass befindet sich dort seit der Übernahme der alten Bestände des Pariser Conservatoire in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. – Doch in letzter Zeit wurden eben hier noch unkatalogisierte Bestände in den Katalog eingearbeitet (herzlichen Dank an François-Pierre Goy), sodass etliche Autographe von Louise Farrenc nun neu über den Katalog der BNF und auch in RISM zugänglich sind (RISM Catalog | RISM Online). Das ist sehr erfreulich, zumal Autographe von wichtigen Werken darunter sind, z.B. von allen vier Klaviertrios.

Völlig unerwartet kam parallel dazu die Entdeckung gleich zweier Textzeugen der bislang nur dem Titel nach bekannten Mélodie ­Le Pêcheur Catalan WoO II.2, No. 9, die Louise Farrenc vermutlich spätestens (1831) komponierte: Im Dezember 2021 erreichte mich die Email von Prof. Dr. Tom Moore von der Florida International University in Miami mit der Nachricht, er habe eine unbekannte Liedkomposition von Louise Farrenc gefunden und würde gerne wissen, ob diese authentisch sei. Der Titel “Le Pêcheur Catalan” war bisher nur in dem Verlagskatalog Aristide Farrencs überliefert (Catalogue des ouvrages de musique composant le fonds d’A[risti]de Farrenc, en dépôt chez Colombier, Paris 1841, p. 112) und wurde daher in das Werkverzeichnis ohne Textzeugen aufgenommen. Vor diesem Hintergrund interessierte ich mich umso mehr für den Fund, bei dem es sich – wie die Durchsicht der Scans ergab – um ein Exemplar der Originalausgabe aus dem Verlag Aristide Farrencs handelt.

Im Zuge dessen stellte sich heraus, dass das Autograph in Paris bisher unentdeckt blieb, weil es anonym überliefert ist und beim Katalogisieren nicht identifiziert wurde (es gehört nicht zu den oben erwähnten erst kürzlich katalogisierten Quellen): Die Eingabe des Titels in den Katalog der BnF brachte einen Treffer auf eine Handschrift mit der Signatur VM7-25919, deren Beschreibung zu der Mélodie passte. Ein Vergleich der Handschrift mit der gedruckten Ausgabe ergab schnell, dass es sich tatsächlich um dieselbe Komposition handelt. Die Fotos, die mir M. Goy von dem Manuskript zuschickte, zeigten mir dann auch Louise Farrencs Handschrift, so dass nun zweifelsfrei feststeht, dass ein Autograph der Mélodie im Bestand des Département de la Musique erhalten ist.

Die in den USA in einem Sammelband alter Musikdrucke entdeckte Ausgabe lässt sich aufgrund der Verlags- und Plattennummer (A.F. 421) sowie der auf der Titelseite angegebenen Verlagsadresse auf 1831 datieren; diese Datierung markiert folglich den terminus ante quem für die Komposition. Während das Autograph (RISM Catalog | RISM Online) lediglich den Titel der Mélodie in der Kopfzeile der Partitur wiedergibt (“Le Pêcheur Catalan“), enthält der Druck erwartungsgemäß weitere Informationen, so etwa zwei Möglichkeiten der Besetzung mit einer oder zwei Singstimmen im Untertitel (“Barcarolle à une ou deux voix“), den Textdichter (Jules van Gaver), die Widmungsträgerin (Mme P[au]la de Ferry) und natürlich Louise Farrenc als Komponistin und Aristide Farrenc als Verleger. Die Widmungsträgerin ist gänzlich unbekannt, und auch über den Textdichter lässt sich nicht viel in Erfahrung bringen. Der Katalog der Bibliothèque nationale de France weist einige Titel aus, darunter zwei Komödien und eine Gedichtsammlung sowie die Abhandlung Turquie (1840), die er gemeinsam mit dem Orientalisten Joseph-Marie Jouannin verfasste. Louise Farrenc vertonte einen weiteren Text von ihm in der dramatischen Szene und Arie Le Suicide WoO II,2, Nr. 11. Auch von Louise Farrencs Tochter Victorine Farrenc ist eine Komposition über einen Text van Gavers verzeichnet. Lebensdaten oder andere biographische Details könne über Jules van Gaver nicht in Erfahrung gebracht werden.

In der Überlieferung der Komposition stimmen Druck und Autograph im Wesentlichen überein: Beide Textzeugen geben die 1. Strophe und den Refrain (insgesamt 40 Takte) in Partitur für zwei Singstimmen (Tenor und Sopran) und Klavierbegleitung wieder. Für die 2. und 3. Strophe sind nur die beiden Singstimmen notiert bzw. gedruckt, vermutlich um die Silbenverteilung zu verdeutlichen. Die kleinen Bleistiftnotizen im Autograph für die Zeilen- und Seiteneinteilung sind im Druck umgesetzt, so dass das Autograph mit höchster Wahrscheinlichkeit direkt als Stichvorlage gedient hat. Die Angaben zum Textautor und zur Widmungsträgerin müssen dann allerdings auf einem zusätzlichen Dokument übermittelt worden sein – oder aber mündlich, denn der Verleger Aristide Farrenc war ja der Ehemann der Komponistin.

Das Autograph weist zudem etliche Änderungen sowohl in den Singstimmen als auch in der Klavierbegleitung auf, sie betreffen jedoch nur die Strophe; der Refrain blieb unverändert. Offenbar handelt es sich um Sofortkorrekturen, denn die Änderungen in den Singstimmen sind in der Notation der 2. und 3. Strophe bereits in Reinschrift übernommen. Ebenso sind sie im Druck umgesetzt. Verschiedene Lesarten sind nicht festzustellen, lediglich sind im Druck wenige Vortragszeichen hinzugefügt (am Beginn des Refrains ein Pianozeichen in der Klavierbegleitung und an zwei Stellen gegen Ende des Refrains Akzente in den Singstimmen), die sich im Autograph nicht finden. Im Text des Refrains ist im Druck ein Wort weggelassen: Statt „Vogue, vogue ô ma nacelle“ heißt es im Druck „Vogue, vogue ma nacelle“. Zwar ist hier ein Druckfehler nicht gänzlich auszuschließen, doch eher vermute ich eine absichtliche Änderung zugunsten des Gleichmaßes der Silben, zumal auch die Musik hier klar eine ganz gleichmäßige „Wellenbewegung“ im wiegenden 6/8-Rhythmus zeigt.

Louise Farrencs kompositorischer Schwerpunkt lag auf der Orchester- und Kammermusik sowie Klaviermusik (sie war über 30 Jahre Professorin für Klavier am Pariser Conservatoire). Ihre Vokalmusik umfasst 12 vollendete Werke, die Oper Didone Abbandonata nach dem berühmten Libretto von Pietro Metastasio ist nur aus Konzertrezensionen bekannt, die auch nur Teile daraus erwähnen. Ob die Oper jemals fertig wurde, ist ungewiss. Über eine Aufführung der ganzen Oper ist jedenfalls nichts überliefert. Somit ergänzt der Fund der Textzeugen zu Le Pêcheur Catalan ein weiteres Puzzleteil zur Überlieferung von Louise Farrencs Vokalwerken, und es könnte sich lohnen, diese etliche Jahre nach Erscheinen eines Aufsatzes von Florence Launay (“The Vocal Music of Louise Farrenc”, in: Louise Farrenc und die Klassik-Rezeption in Frankreich, hrsg. von Rebecca Grotjahn und Christin Heitmann (Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts, 2), Oldenburg 2006, S. 153–163) doch noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen.

Abbildung: Louise Farrenc, Le Pêcheur Catalan, Autographes Manuskript, mit freundlicher Genehmigung der Bibliothèque nationale de France - Département de la Musique (F-Pn VM7-25919).

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Kategorie: Wiederendeckt


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